In einer Vorlesung an der Sorbonne am 11. März 1882 formulierte der Historiker Ernest Renan eine provokante These:
Das Vergessen – ich möchte fast sagen: der historische Irrtum – spielt bei der Erschaffung einer Nation eine wesentliche Rolle, und daher ist der Fortschritt der historischen Erkenntnis oft für die Nation eine Gefahr. Die historische Forschung bringt in der Tat die gewaltsamen Vorgänge ans Licht, die sich am Ursprung aller politischen Institutionen, selbst jener mit den wohltätigsten Folgen, ereignet haben. Die Vereinigung vollzieht sich immer auf brutale Weise.1
Die Europäer haben die Nachwirkungen des Ersten Weltkriegs vergessen. In Mittel- und Osteuropa entstanden neue Nationen, ihre Gründung markierte jedoch nicht nur das Ende eines Konflikts, sondern auch den Beginn vieler anderer.
Der Erste Weltkrieg endete mit dem Waffenstillstand vom 11. November 1918, doch im Herzen des Kontinents kehrte erst Jahre später Ruhe ein. In Russland brachte die Oktoberrevolution von 1917 ein bolschewistisches Regime an die Macht. Der darauf folgende russische Bürgerkrieg zwischen 1917 und 1921 forderte weit mehr Todesopfer als der Erste Weltkrieg. Er wurde bald zu einem wichtigen Bestandteil der sowjetischen Mythologie. Diese Geschichte ist weithin bekannt, doch weit weniger bekannt ist die Tatsache, dass auch Ost- und Mitteleuropa in Chaos und Gewalt versank. In diesen Regionen ging der Erste Weltkrieg nahtlos in einen Bürgerkrieg über. Im Gegensatz zu den sowjetischen Erfahrungen wurden die Konflikte in dieser Region zwischen 1918 und 1921 nie Teil einer nationalen Mythologie. Ganz im Gegenteil. Die allgemeine Auffassung ist, dass diese Staaten Ende 1918 über Nacht entstanden sind.2 Gemäß der Prophezeiung Renans wurde der ostmitteleuropäische Bürgerkrieg aus den offiziellen Berichten gestrichen, sobald er beendet war.
Wenn es in Ost- und Mitteleuropa Ende 1918 voll entwickelte Nationalstaaten gab, dann müssen die Konflikte zwischen diesen Staaten Staatskriege gewesen sein, und so sind sie auch in der Geschichtsschreibung behandelt worden.3 Dies muss aber bezweifelt werden. Ende 1918 waren die Nationalstaaten in Ost- und Mitteleuropa weder voll entwickelt noch von der Bevölkerung getragen. In umstrittenen und multiethnischen Grenzregionen wie Oberschlesien oder dem polnisch-ukrainischen Grenzgebiet waren staatliche Loyalitäten, sofern sie überhaupt existierten, geteilt und oft ambivalent. Nationale Identitäten brauchten Zeit, um sich zu entwickeln. Und das nicht nur in den Grenzregionen. In den Machtzentren kämpften politische Gruppierungen erbittert gegeneinander um die Vorherrschaft.
Die Zweite Polnische Republik befand sich im Zentrum dieses Umbruchs: Sie war in bewaffnete Konflikte mit allen Nachbarn außer Rumänien verwickelt und gleichzeitig politisch gespalten. Jüngste Forschungen haben gezeigt, dass 1918 der großen Masse der polnischsprachigen Bevölkerung die Idee eines Nationalstaates fremd war.4 Die Gemeinschaften in den umstrittenen Gebieten betrachteten sich nämlich immer noch als Bürger eines kürzlich zusammengebrochenen Reiches. Weit davon entfernt, die Verheißungen eines nationalen Erwachens zu begrüßen, verstand der größte Teil der Bevölkerung diese Jahre lediglich als einen Bürgerkrieg.
Die Geschichte Europas wird immer noch als Nationalgeschichte geschrieben,5 wie im Falle Polens und Ungarns deutlich wird.6 In Polen schreibt die laufende Bildungsreform der Partei Recht und Gerechtigkeit eine Rückkehr zu den Einstellungen des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts fest: Patriotismus wird betont, nationale Symbole werden verherrlicht.7 Im Februar 2020 kündigte der stellvertretende polnische Ministerpräsident Piotr Gliński die Eröffnung eines Instituts für das Erbe Nationalen Denkens an. Ziel des Instituts ist die Erstellung einer biografischen Enzyklopädie über herausragende Vertreter des polnischen Katholizismus’ und der polnischen Nationaldemokratie.8 Dort galt antisemitisches Gedankengut bis in die 1930er Jahre als akzeptabel. Im Jahr 2018 wurde der hundertste Jahrestag der polnischen Unabhängigkeit im Geiste einer nationalen, patriotischen und religiösen Selbstvergewisserung gefeiert. Im Rahmen einer Rede, die Präsident Andrzej Duda am 11. November in Warschau hielt, propagierte er einen christlichen Staat, durch Sprache und Kultur geeint und seit 1918 von großen Politikern geführt. Dudas Rede brachte die aktuelle Regierungslinie zum Ausdruck.
Sie stand zugleich im Widerspruch zu den historischen Fakten.
Vor einem Jahrhundert hatten zahlreiche polnische Historiker eine viel differenziertere Sichtweise. Im Jahr 1916 sah Bołesław Limanowski die Zukunft eines polnischen Staates innerhalb der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Zehn Jahre später beschwor er als Bürger eines seine ethnischen Minderheiten gewaltsam assimilierenden polnischen Nationalstaates die multiethnische Vergangenheit des polnisch-litauischen Reiches, das 1795 während der Teilungen Polens untergegangen war. In den frühen 1920er Jahren wandte sich Michał Bobrowski gegen den polnischen Nationalismus und unterstützte die Idee eines ostmitteleuropäischen Staatenbundes. Marceli Handelsman hatte an den Kämpfen im Osten nach dem Waffenstillstand teilgenommen und war selbst Zeuge der Teilung der multiethnischen Grenzgebiete Polens geworden. Andere Historiker wie Władysław Smoleński, Oswald Balzer und Wacław Sobieski wiederum vertraten zu dieser Zeit einen rein nationalistischen Ansatz.9 Diese gegensätzlichen nationalistischen und multiethnischen Ansichten spiegeln sich auch heute noch in der politischen und akademischen Landschaft Polens wider. Man könnte sagen, dass die regierende Partei Recht und Gerechtigkeit mit ihrer nationalen Agenda die erste Sichtweise, die oppositionelle Bürgerplattform mit ihrer Ausrichtung auf die Europäische Union die zweite vertritt.
Historiker und Soziologen sind sich heute weitgehend einig, dass es Ende 1918 keine einheitliche polnische Nation gab. Mehr als ein Jahrhundert zuvor hatte Polen aufgehört, als Staat zu existieren, da es von Deutschland, Österreich und Russland in drei Gebiete aufgeteilt worden war. Da es nun drei verschiedenen Imperien unterstand, entwickelten sich diese Gebiete politisch in unterschiedliche Richtungen, während ihre Bevölkerung ethnisch gemischt war: Polnischsprachige Menschen lebten zusammen mit jiddisch-, ukrainisch- und deutschsprachigen Menschen. Die polnischsprachigen politischen und kulturellen Eliten des neunzehnten Jahrhunderts, die die Vision einer ethnischen polnischen Nation propagierten, hatten keinen historischen Referenzpunkt, auf den sie sich hätten beziehen können. 1918 waren Wesen und Zusammensetzung der polnischen Nation noch immer umstritten.10
Diese Debatte erreichte die größtenteils des Lesens unkundigen Bauern erst gar nicht. Und selbst denjenigen, die lesen konnten, war die Idee eines polnischen Staates oftmals suspekt. Die polnischsprachige Bevölkerung Ostmitteleuropas war zu vier Fünfteln ländlich geprägt. Diese Gemeinschaften waren auf Beständigkeit angewiesen und standen den abrupten politischen Umwälzungen misstrauisch gegenüber. Ein polnischer Bauer erinnerte sich in den 1930er Jahren an den Moment der polnischen Unabhängigkeit Ende 1918:
Dann kamen andere Zeiten. Das Dorf wachte auf, weil ringsum schon alles in Aufruhr war. Sie sagen uns, dass es ein Polen geben wird, ja, dass es jetzt schon errichtet wird, es sei immer noch schwach, würde aber allmählich stärker. Die Bauern wollen es nicht glauben, weil man uns lange erzählt hat, hier ist Russland und hier wird Russland sein, und jetzt soll hier auf einmal ratzfatz Polen sein.11
Die Bauern im Ostmitteleuropa der Nachkriegszeit waren noch lange nicht auf nationaler Ebene mobilisiert.12
Die Voraussetzungen für die Entstehung von Nationalstaaten in Ostmitteleuropa wurden geschaffen, nachdem der Erste Weltkrieg die dort lange Zeit herrschenden Imperien von der Landkarte getilgt hatte. Die Verwüstungen und Entbehrungen, die der Krieg anrichtete, waren immens. Als Leiter der American Relief Administration Herbert Hoover damit beauftragt, die die Versorgung und den Wiederaufbau Mittel- und Osteuropas mit Hilfe der USA zu organisieren. Rückblickend stellte er fest, dass es in einigen Teilen Polens nicht weniger als
sieben Invasionen und sieben vernichtende Rückzüge [gegeben hat]. Hunderttausende sind verhungert. Die Heime von Millionen sind zerstört worden; dort lebten die Menschen in elenden Hütten. Deren landwirtschaftliche Geräte waren weg, die Tiere von den Armeen konfisziert, das Getreide ist nur teilweise geerntet worden. Die Industrie in den Städten lag wegen Rohstoffmangels danieder. Die Menschen waren arbeitslos und Millionen von ihnen mittellos.13
Die Nachwirkungen des Krieges weckten in der Bevölkerung den dringenden Wunsch nach Frieden und einer Rückkehr zu Sicherheit, Ordnung und Wohlstand. Die meisten der Soldaten, die in den imperialen Armeen gekämpft hatten, waren Bauernsöhne. In den Kriegsjahren mussten ihre Familien die Ernte ohne sie einbringen. Der Mangel an Arbeitskräften und Fachwissen endete nicht mit dem Waffenstillstand. Hunderttausende von Bauern waren auf den Schlachtfeldern geblieben. Man kann sich leicht vorstellen, wie die ländlichen Gemeinden Ende 1918 die Nachricht aufnahmen, dass der Kampf nicht vorbei war, sondern nun mit nationalen Agenden zwischen den entstehenden Staaten weitergehen würde.
Im August 1914, so die landläufige Vorstellung, begrüßten die Menschen in Europa den Ausbruch des Krieges, ein Phänomen, das auch als „Augusterlebnis“ bezeichnet wird. Die Aufnahmen von Menschen, die in den Straßen der Hauptstädte enthusiastisch feiern, sind aber trügerisch, denn die große Masse derer, die den Krieg mit Sorge betrachteten, ist darauf nicht abgebildet.14 Ebenso irreführend wie das „Augusterlebnis“ ist das „Novembererlebnis“ von 1918, das hartnäckig in vielen Köpfen herumspukt – auch wenn es absurd ist zu glauben, dass sich die imperialen Gesellschaften plötzlich in nationale Gesellschaften verwandelten. In Wirklichkeit hatte die Bevölkerung Ostmitteleuropas noch nicht entschieden, wie sie sich in Nationen aufteilen sollte – sie war auch nicht danach gefragt worden. Erst nachdem die sich neu formierenden Machtzentren miteinander in Konflikt gerieten wurden die Menschen aufgefordert, sich zu entscheiden, oder besser: wurden sie gezwungen, eine von anderen getroffene und mit Gewalt durchgesetzte Entscheidung zu akzeptieren.
Die Bevölkerungen wurden nun durch unsichtbare Frontlinien getrennt. Als junger Soldat im polnisch-litauischen Grenzgebiet kam Marceli Handelsman mit einem örtlichen Bauern ins Gespräch:
Er erzählte mir, dass er hier in Ogrodniki lebt und sein Schwager dort in Bereźniki, hier sei jetzt Litauen, und dort Polen. Früher war es Eins, und jetzt gibt es eine Grenze zwischen den Leuten aus Bereźniki und denen aus Ogrodniki. Jetzt ist Krieg. Soll das wirklich so sein, gehen wir nicht in eine Kirche, ist es nicht eine Katastrophe, dass Brüder sich entzweit haben und gegeneinander kämpfen?15
Ab November 1918 entfachten aufstrebende Nationalstaaten kriegerische Konflikte in ganz Ostmitteleuropa. Obwohl es üblich ist, diese als Staatskriege zu bezeichnen, kommen bei näherer Betrachtung Zweifel auf. Die Konflikte nahmen vielmehr für Bürgerkriege typischen Formen an, sei es der ukrainisch-polnische Konflikt um Lemberg und Ostgalizien (1918–19), der deutsch-polnische Konflikt um Posen und Oberschlesien (1918–20), der polnisch-litauische Konflikt um die Region Wilna (1919–20) oder der tschechisch-polnische Konflikt um das Teschener Schlesien (1918–20). In keiner der umstrittenen Regionen wurde die Gewalt ausschließlich von regulären Truppen ausgeübt; auch paramilitärische Einheiten und terroristische Organisationen waren beteiligt. Die Grenzen zwischen diesen Einheiten und lose organisierten Räuberbanden waren oft fließend.16 Gewalt gegen ethnische Minderheiten, Frauen, Kinder und alte Menschen war an der Tagesordnung. Besonders die jüdische Bevölkerung hatte darunter zu leiden.17 Die hier zu beobachtenden willkürlichen Formen der Gewalt sind nach Ansicht des griechischen Politikwissenschaftlers Stathis Kalyvas typisch für Bürgerkriege.18
Aus politischer Sicht ist ein Bürgerkrieg ein „Krieg zwischen den Bürgern oder Einwohnern eines Landes, eines Staates oder einer Gemeinschaft.”19 Ist diese Definition in diesem Fall anwendbar? Im Jahr 1918 war es gar nicht möglich, von nationalen Gemeinschaften zu sprechen, da ihre Bildung erst das Ergebnis aufeinanderfolgender Konflikte war. Die kriegführenden Parteien waren weit davon entfernt, eine einheitliche Staatsführung zu haben. So schickte die Weimarer Regierung beispielsweise die berüchtigten Freikorps zur Bekämpfung polnischer Aufständischer. Dieselben rechtsgerichteten paramilitärischen Gruppen bemühten sich in den folgenden Jahren nach Kräften, die Weimarer Demokratie zu stürzen.20 In den Regionen zwischen Lemberg und Charkiw gab es zeitgleich eine Westukrainische Volksrepublik, eine Ukrainische Volksrepublik und eine Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik.21 In den baltischen Staaten standen die nationalen Regierungen nicht nur in Konflikt mit deutschen Freikorps und der Roten Armee, sondern auch mit den Truppen baltischer Sowjetrepubliken, kurzlebigen Gegenregierungen, die von Moskau geschaffen und unterstützt wurden.22
Im Falle Polens ist die innere Spaltung besonders auffällig. Ende 1918 gab es mehr als ein halbes Dutzend verschiedener Machtzentren. Dazu gehörten ein Regentschaftsrat, der im September 1917 während der deutschen Besatzung einberufen worden war; eine kurzlebige provisorische Volksregierung in Lublin unter der Leitung von Ignacy Daszyński; ein im Oktober 1918 in Krakau gegründetes polnisches Liquidationskomitee, das das ehemalige österreichisch-ungarische Kronland Galizien wieder in Polen eingliedern sollte; eine eilig zusammengestellte Regierung in Warschau, die am 11. November 1918 unter dem ehemaligen sozialistischen paramilitärischen Führer und militärischen Befehlshaber Józef Piłsudski eingesetzt wurde; und ein Polnisches Nationalkomitee, das im August 1917 in Paris von Piłsudskis Erzrivalen, dem Nationaldemokraten Roman Dmowski, gegründet worden war und die polnischen Interessen gegenüber der Entente vertrat. Außerdem wurden in den umkämpften Grenzregionen verschiedene Nationalräte gebildet, die verschiedene Standpunkte vertraten, von der Integration in einen polnischen Nationalstaat bis hin zur lokalen Autonomie.23 Diese Machtzentren standen oft in Konflikt miteinander. Im Dezember 1918 zog das Polnische Nationalkomitee in Paris in einem Protokoll ernsthaft die Möglichkeit in Betracht, große Kontingente polnischer Soldaten aus französischen Kriegsgefangenenlagern nach Polen zu schicken, um die Warschauer Regierung zu stürzen.24 Obwohl dieser Plan nicht in die Tat umgesetzt wurde, kam es im Laufe des Jahres 1919 im ganzen Land zu zahlreichen Scharmützeln zwischen polnischen Einheiten, die verschiedenen Kommandos unterstanden.
Angesichts einer solch verwirrenden Vielfalt von Machtzentren, die zwischen 1918 und 1921 teils kooperierten, teils miteinander konkurrierten und teils gegeneinander kämpften, ist eine Kategorisierung dieser Konflikten als Staatenkriege ein zum Scheitern verurteilter Versuch, das politische Chaos zu ordnen. Diese Vereinfachung lässt außerdem große Teile der Bevölkerung Ostmitteleuropas außen vor, die diese Zeit als Bürgerkrieg erlebten. In einem Gedicht, das er im Mai 1919 verfasste, beschwor ein polnischer Zugführer Polen, Tschechen und Ukrainer: „Slawen, legt euch nicht gegenseitig Steine in den Weg, schließlich sind wir keine dummen Bauern, sondern Mitglieder einer Familie.“ Etwa zur gleichen Zeit schrieb Michał Römer, ein polnisch-litauischer politischer Aktivist, in sein Tagebuch, dass der Krieg „in die menschlichen Gesellschaften eingedrungen ist und sich in einen Zustand des permanenten Chaos’ verwandelt hat, ein bellum omnium contra omnes“. Während des Konflikts um Ostgalizien, der zwischen 1918 und 1919 stattfand, bezeichnete die polnische und ukrainische Presse die Kämpfe häufig als Brudermord.25
Der britische Historiker David Armitage hat ausführlich über Bürgerkriege geschrieben. „Aber wie können wir Bürgerkriege von Kriegen anderer Art unterscheiden“, fragt er, „wo doch so viele innere Konflikte über die Grenzen ihres Landes hinausdringen oder Kämpfer von außerhalb anlocken …?“ Seine Antwort: „Bürgerkrieg ist zuerst und vor allem eine Kategorie von Erfahrungen; die Beteiligten wissen in der Regel, dass sie sich inmitten eines Bürgerkriegs befinden, lange bevor internationale Organisationen ihn zu einem solchen erklären.”26 Man möchte hinzufügen: „und lange bevor eine nationalisierende Geschichtsschreibung sie für sich vereinnahmt“.
In Ostmitteleuropa bildete sich ein ethnischer Nationalismus gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts heraus. Er führte nach dem Ersten Weltkrieg zur Bildung einer Reihe von Nationalstaaten, die ihren Grenzminderheiten geradezu abrupt eine Form nationaler Identität aufzwangen.27 Dies ist die gängige und bekannte Auffassung. Sie ist nicht falsch. Die Forschung hat das zerstörerische Potenzial des ethnischen Nationalismus schon lange erkannt.28 Wenn diese Darstellung auch nicht falsch ist, so ist sie doch unvollständig, weil die Historiker den Übergangscharakter der Jahre zwischen 1918 und 1921 nicht wirklich berücksichtigt haben. In diesen drei Jahren wurde die Theorie in die Praxis umgesetzt. Was auch immer Politiker sagten oder dachten, die lokale Bevölkerung in den umstrittenen Gebieten nahm den Konflikt als Bürgerkrieg und nicht als nationales Erwachen wahr. Die Annahme, dass sich 1918 bereits ein gewisses Gefühl der nationalen Zugehörigkeit herausgebildet hatte, ist unzutreffend. Neuere Forschungen sprechen dagegen. Wie Tara Zarah festgestellt hat,
markierte die Auflösung des österreichischen Kaiserreichs den Untergang des national indifferenten oder neutralen Staates in Ostmitteleuropa. Die tschechoslowakische, die polnische und die jugoslawische Regierung nahmen alle eine Zwangsklassifizierung ihrer Bürger vor, in der Hoffnung, die Legitimität ihrer Staaten im In- und Ausland zu stärken, indem sie die Zahl der Angehörigen von Minderheitengruppen reduzierten.29
In der Tat entstanden die neuen Nationen im Rahmen der Konflikte, die zwischen 1918 und 1921 ausbrachen. Erst während dieser Feindseligkeiten wurden Einzelpersonen und Bevölkerungen in vielen verschiedenen Regionen plötzlich dazu gezwungen, sich zu entscheiden, auf welcher Seite sie standen.
Ein Verständnis für diese Zeit ist heute notwendiger denn je. Angesichts eines wieder erstarkenden Nationalpopulismus’ müssen Historikerinnen und Historiker ihre Erkenntnisse einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen. Ähnliche Vorgänge finden in Polen, Ungarn, Deutschland, Frankreich und Großbritannien statt, wo Parteien mit nationalem Gedankengut in multikulturellen Gesellschaften an Boden gewinnen. Die Tatsache, dass diese Agenden Ost- und Mitteleuropa zwischen 1918 und 1921 in einen Bürgerkrieg stürzten, ist weitgehend in Vergessenheit geraten.